Aus Heiterem Himmel
Kinospielfilm zusammen mit Dieter Fahrer
Von Schlafwandlern und anderen Emigranten:
Am 22. Juni 1991 verpasst der Fotograph Chäschpu das entscheidende Tor im Schweizer Cup-Final. Sein ganzes Leben schon stolpert er sich erfolgreich durch sein permanentes Provisorium.
An diesem Tag lernt Graszena die Getränkekarte ihres neuen Arbeitgebers auswendig. Sie nimmt sich, was ihr das Leben als ausländische Serviererin zu bieten hat. Und weil das oft nicht viel ist, nimmt sie sich zu viel, um genug von allem zu bekommen.
Tina, die Schülerin vom Land, haut von zu Hause ab. Aber das tut sie immer. Wenn ihr Vater doch nur nicht ständig so gut auf sie aufpassen würde.
Die Nachtschwester Lucie lebt in ihrer Bücherwelt. Kein Wunder, dass sie schlafwandelt und sich vergittern muss, bevor sie ins Bett geht.
Özgür aus der Türkei ist da anders: Er träumt vom grossen Glück. Und weil das so schwer zu finden ist, bildet er sich ein, er habe es schon gefunden. Hier in der Schweiz natürlich. In seinen Briefen nach Hause schwärmt er, was für ein wunderbares Land die Schweiz sei. Nur blöd, muss er es nun plötzlich beweisen.
Was diese fünf so unterschiedlichen Figuren miteinander verbindet? – „Aus heiterem Himmel“ und zwei, drei Zufälle.
Out of a blue sky – Sleepwalkers and other emigrants
On June 22 1991 Chäschpu photographed the Swiss Cup Final.
This was the day on which Graszena learnt her new employer’s list of wine and beverages off by heart. And Tina left home. But she is always doing that. Just as Lucie is always barring herself in before going to sleep after her night watch.
Özgür from Turkey is different: he is dreaming of happiness. And because it is so hard to find, he imagines he has found it already. Here in Switzerland, of course. Unfortunately he has to prove it now.
What is it that connects these five people who are all so different? – The film „Out of a blue sky“ and two or three coincidences.
D’un ciel bleu – De quelques somnambules et autres émigrants
Le 22 juin 1991 Chäschpu photographie la finale de la Coupe.
Ce jour-là, Graszena apprend par cœur la carte des consommations de son nouvel employeur. Et Tina s’en va chez elle. Mais elle le fait toujours. Exactement comme Lucie, qui s’enferme toujours avant de se coucher au terme de sa garde de nuit. Özgür, un Turc, a d’autres soucis: il rêve du bonheur avec un grand B. Comme c’est difficile à trouver, il s’imagine qu’il l’a déjà trouvé. Ici, en Suisse, naturellement. Malheuresement il doit le prouver.
Ce que ces cinq personnages si différents ont en commun? – Le film „D’un ciel bleu“ et deux ou trois hasards.
Chäschpu | Yves Progin |
Özgür | Zekeriya Yelkalan |
Graszena | Elisabeth Niederer |
Lucie | Sabina Markòczy |
Tina | Isabelle Favez |
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Drehbuch und Regie | Felix Tissi |
Produzent | Res Balzli |
Kamera | Dieter Fahrer |
Ton | Felix Singer |
Maske und Ausstattung | Karin Tissi |
Schnitt | Maya Schmid |
Musik | Kahondo Style |
Produktion | Balzli & Cie Filmproduktion in Co-Produktion mit dem Schweizer Fernsehen DRS (Redaktion Martin Schmassmann) |
Die alltägliche Physik der Geschichten
Wie hängen die Dinge des Lebens zusammen?
Wenn am Morgen in Einerkolonne die Stadt-Busse aus dem Depot fahren und sich allmählich verteilen auf die verschiedenen Routen, wird die Ordnung des Alltags hergestellt. Diese Ordnung, so selbstverständlich, so unausweichlich sie scheinen mag, erweist sich aber oft als äusserst labil.
Ein Photograph, der im entscheidenden Moment nicht abdrückt, ist seine Stelle los; eine Krankenschwester, die für’s Leben gerne Romane liest, muss sich Nacht für Nacht mit Raffinesse daran hindern, schlafwandelnd auf das Fensterbrett zu steigen, um einfach davonzufliegen. Am liebsten davonfliegen möchte auch die Siebzehnjährige, die mit ihrem Vater auf dem Land lebt und immer wieder abhaut, irgendwohin, wo das Leben stattfindet. Und die Serviererin in einer Quartierbeiz, sie sehnt sich aus ihrem Alltag heraus nach Liebe. Was haben diese Menschen in ihrer Vereinzelung miteinander zu tun? Und was hält sie in ihrem Alltag fest?
In ihrem neuen Film „Aus heiterem Himmel“ erzählen Felix Tissi und Dieter Fahrer nicht nur fünf verschiedene und lose miteinander verbundene Geschichten; sie stellen zugleich die Frage, wie in unserem oft so öden Alltag Geschichten überhaupt zustande kommen.
Sehr zufällig geschieht es, dass die fünf Hauptfiguren im Film sich da und dort begegnen; nicht immer hat so eine Begegnung etwas zu bedeuten. Als geübte Kinobesucher meinen wir oft zu wissen, was kommt, denn wir kennen die Clichés, die der Film anbietet. Wir können uns aber irren, so wie der junge Mann, der eines Nachts auf der Aarebrücke einer Frau begegnet, die ins Wasser schaut. Als Fotograf im Interpretieren von Bildern ganz besonders geübt, meint er, dass sie dabei sei, sich das Leben zu nehmen. Ein Missverständnis, aber dann wird eine ganz andere Geschichte daraus.
Über dem Horizont des Tatsächlichen spannt dieser Film (im Kopf des Zuschauers) das luftige Gewölbe dessen, was noch nicht wirklich, nur erst möglich ist. Vieles passiert dann wie aus heiterem Himmel, aber immer geschieht es vor dem Hintergrund zahlloser Möglichkeiten, von denen die eine oder andere ganz einfach zutreffen muss! So offenbart der Film im banalen Alltag ein ganzes Gewebe von Geschichten. Und wie der Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo in Australien entscheiden kann, ob Wochen später in der Karibik ein Orkan losgeht, so kann – diese Erkenntnis der Chaos-Forschung aus der Meteorologie ins Poetische gewendet – eine kleine Lüge, eine Träumerei, ein dummes Missgeschick darüber entscheiden, ob zwei Menschen zusammenkommen oder nicht, ob sich jemand das Leben nimmt, ob der Alltag aus den Fugen bricht oder alles weitergeht, als wäre nichts geschehen.
Ein türkischer Arbeiter, der Heimweh hat, seine Eltern aber nicht beunruhigen möchte, schreibt nachhause, wie gut es ihm gehe in der Schweiz. Dass er Freunde habe, und einer habe ihm sogar eine Videokamera geschenkt. Und vielleicht ist er es, der alles ins Rollen gebracht hat. Denn nachdem seine Eltern in der Türkei prompt (mit geliehenem Geld!) ein Abspielgerät gekauft haben und gespannt auf den ersten Video-Brief mit Bildern von jenem Freund warten, bleibt dem guten Mann gar nichts anderes übrig, als sich auf die Suche zu machen nach so einem Freund…
Vielleicht hat diese kleine Lüge den entscheidenden Ausschlag dafür gegeben, dass sich am Ende des Films, ganz unscheinbar und wie selbstverständlich, etwas Unwahrscheinliches ereignet. Vor dem Hintergrund von Tissi und Fahrers „heiterem Himmel“ erscheint aber auch dieses Unwahrscheinliche nur als Sonderfall des Gewöhnlichen. Das Wundersame tritt ein, wenn sich die Materie des Alltäglichen in der Zeit jäh „verdichtet“.
Felix Tissi und Dieter Fahrer haben in diesem Film eine grosse Frage präzise gestellt. Diese Frage, und damit der Film, ist ungeheuer zeitgemäss.
(Rolf Niederhauser, Schriftsteller)
114 Min., col, Letterbox, stereo, Schweizerdeutsch
Drehformat: Beta SP
Endformat: FAZ 16mm – color
Fernsehfassung: 95 Min.
„Aus heiterem Himmel“ schliesslich, nochmal fünf Alltagsepisoden des Schweizers Felix Tissi, die unmerklich so miteinander verflochten werden, dass unversehens eine prägnante Beschreibung der Lebensumstände nicht nur in der Schweiz entsteht – dem Perlenglanz solcher Fundstücke hatten die Deutschen bestenfalls Strass-Glitzern entgegenzusetzen. Frankfurter Allgemeine
Besser als in „Aus heiterem Himmel“ ist die Berner Szene noch nicht formuliert worden. Tissi hat eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Erfindung von clownesken Figuren. Ein Dutzend stehen nun schon da in drei Filmen, deren Verbindlichkeit trotz des scheinbar unverbindlichen Tons auffällt. Unterschätzen kann man ihn nun wirklich nicht mehr. Martin Schaub, WOZ
„D’un ciel bleu“ confirme donc le talent cinématographique indéniable d’un metteur en scène. Journal du Jura
„Aus heiterem Himmel“ ist ein vielstimmiger und schwebender Film, eine sensible Choreographie des Alltäglichen. Erst zum Schluss verdichten sich die Handlungsfragmente. Raum und Zeit zwischen den Figuren fallen dahin, eine (filmische) Bewegung entsteht und trägt sie davon. Das ist der Moment, wo der Alltag ins Ungewöhnliche kippt. So entstehen Geschichten.
Die fünf Figuren gehören fortan zu Felix Tissis Familie der unangepassten Alltagskomiker und traurigen Stadtclowns, denen wir nicht nur auf der Strasse, sondern manchmal auch im Spiegel begegnen. Fred Zaugg „Der Bund“
Felix Tissi misstraut den dramaturgischen Kurven, die eine Geschichte gemäss Schulbuch nehmen soll. Denn das Leben ist in seiner Abfolge, in seinen Wendungen anders gebaut als die über Jahrzehnte gewachsenen dramaturgischen Klischees, mit denen so viele Kinofilme unsere Sehgewohnheiten bauchpinseln. Wie schrieb doch Robert Bresson: „Die Intrige ist ein Trick der Romanciers.“ Felix Tissi durchbricht die Tricks der ausgetretenen Dramaturgien, um die Mechanik des Lebens sichtbar zu machen.
Den beiden Autoren Felix Tissi und Dieter Fahrer ist zusammen mit Felix Singer, der für die feingliedrige, detaillierte Tonspur verantwortlich zeichnet, ein Film geglückt, der das übliche Kinoerlebnis sprengt. ZOOM
Wie schön Sprödigkeit sein kann, zeigen uns Felix Tissi und Dieter Fahrer in „Aus heiterem Himmel“. Der Film hat durch pointenreiche Dialoge und die feine Zeichnung seiner Figuren die Melancholie und Tragikomik eines Mani-Matter-Liedes. Dazu kommt eine Dramaturgie des Zufalls, die Tissi dem Leben selbst abgeschaut hat. Tages-Anzeiger
Der luftig leichte, witzig melancholische und beim Zuschauer lange nachklingende Dialektfilm wurde im Sommer 1991 mit einem kleinen Team, einem kleinen Budget und weitgehend mit Laiendarstellern in Bern gedreht. An den Internationalen Hofer Filmtagen wurde „Aus heiterem Himmel“ als Entdeckung gefeiert und vom Publikum bejubelt. Begeisterte Kritiken erhielt der Film auch bei seiner Kinoauswertung. TELE